INGE SCHMIDT   Bildhauerin
Tillmann Damrau – Rede zur Eröffnung der Ausstellung Inge Schmidt – sehr höfliche Geister in der Universitätsbibliothek der Philipps-Universität Marburg am 4. September 2014

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Schmidt

Das Buch ist längst ein Massenmedium und gerade die modernen Großbibliotheken mit ihren riesigen, hauptsächlich in Magazinen verborgenen Beständen führen dies eindrucksvoll vor. Zwar assoziiert sich mit Büchern und Bibliotheken immer noch leichthin ein ganzer Bestand an Bildern und Vorstellungen aus dem Fundus der Kulturgeschichte des Buches – Bilder zum Beispiel von übervollen Privatbibliotheken, alten Gewölben oder prunkvollen Bibliothekssälen mit Bücherregalen, die vom Fußboden vom bis zur Decke reichen und Reihen von Lesetischen, an denen sich wissbegierige Menschen einsam ins Studium der Werke vertiefen oder Bilder von Preziosen der Buchkunst, kostbar illuminierten Handschriften, geheimnisvollen, herausragenden oder seltenen Werken, reich mit Stichen illustrierten Büchern, schön und aufwändig gebunden, in so verheißungsvoll antiquierten Formaten wie Folio, Quart und Oktav.

Der Alltag aber ist prosaischer, zumal in einer Universitätsbibliothek. Wie gesagt, das Buch ist ein Massenmedium und interessanterweise ist es die den Massenmedien verpflichtete Populärkultur, die den Nimbus des Buches als etwas Besonderem, geheimnisvoll Mächtigem pflegt, auch wenn im zeitgenössischen Thriller die Datei langsam seine Stelle einzunehmen beginnt.

Die Populärkultur kennt jede Menge Bücher, geheimnisvolle Schwarten, voll dunkler Texte und Bilder oder Notizbücher gefüllt mit kryptischen Aufzeichnungen, die, wenn sie denn entschlüsselt sind, meist Heil und Unheil zugleich verbreiten. Die Populärkultur inszeniert den Zauber des Buches als Zauber der Entschlüsselung, die bisher Verborgenes zugänglich und verfügbar macht.

Mehr noch als vor Bildern fragen wir vor Büchern nach Inhalten, neigen dazu, ihre spezifische Gestalt zu vernachlässigen, sie als bloß notwendige Materialität zu nehmen, die instrumentell in ihrer Medialität aufgeht um etwas Immaterielles, einen geistigen Gehalt zugänglich zu machen. Die Unterscheidung zwischen einer Oberfläche der Dinge, bloßen Bedeutungsträgern und einer geistigen Tiefe, einem spirituellen Gehalt gehört in unserer Kultur mit zum Vertrautesten.

Thomas Pynchon hat das Credo dieser Haltung in seinem Roman Die Versteigerung von No. 49 / The Crying of Lot 49 einmal so formuliert: „Entweder es gab einen verborgenen Sinn hinter dem, was offen für alle sichtbar war, oder es gab keinen.“ (Pynchon 1980, S. 155) / “Another mode of meaning behind the obvious, or none.” (Pynchon 2000, S. 126)

Bücher, ganz allgemein, sind hiernach vor allem Aggregationen von Zeichen, deren Sinn es zu finden gilt, immer verbirgt die Gestalt des Textes und der Bilder ein Tieferes, Wesentlicheres, etwas Immaterielles, das herausgelesen, quasi extrahiert werden muss. Immer wollen wir verstehen, suchen nach Geschichten und Aussagen. Künstlerinnen und Künstler, die bildenden vor allem, tun sich schwer mit dieser Haltung, verwenden sie doch viel Mühe auf die Gestaltung von „Oberflächen“, auf die materielle Gestalt der Werke, ihre Erscheinung, das, was Dieter Mersch einmal die »Ekstatik der Materialität« (Mersch 2002, S. 18) genannt hat. Bildende Künstlerinnen und Künstler sehen ihre Werke ungern als bloße Anordnung von Zeichen, die einen irgendwie fixen Inhalt nur repräsentieren, sie sehen sie vielmehr als Felder, Räume visueller Agilität, mit Gottfried Boehm als „Ort einer Konfiguration von Energien.“ (Boehm 2007b, S. 71)

Ich möchte hier ein Missverständnis riskieren und die Aussage wagen, „Die Bücher von Inge Schmidt verbergen entgegen aller Erwartung keinen tieferen Sinn.“ Sie sind nicht einmal oberflächlich, denn das hieße ja wieder unter der Oberfläche eine Tiefe anzunehmen. Wenn wir vor den Büchern von Inge Schmidt das Paradigma der Entzifferung relativieren, geschieht dies nicht durch den Schwenk zum Paradigma der Offenbarung – auch dieses verspricht nur wieder das Gegenwärtige zu diskreditieren zugunsten eines Verborgenen, das zu ergründen ist, vielmehr haben wir es hier mit einem Paradigma der Operationalisierung zu tun. Lassen sie mich zur Erläuterung einfach Gilles Deleuze zitieren: „Sinn wird [...] hergestellt [...] Sinn ist stets eine Wirkung [...] im Sinne einer »optischen Wirkung«, einer »Klangwirkung« [...] es handelt sich um ein Produkt [...] Es ist darum so erfreulich, dass heute die frohe Botschaft ertönt: Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt. Er ist nicht zu entdecken, wiederherzustellen oder neu zu verwenden, er ist [...] zu produzieren." (Deleuze 1993, S. 96 ff)

Wir sollten also vor diesen Büchern, Leporellos und Buchobjekten nicht unbedingt nach fixen Inhalten fragen, sondern eher danach, was sie zeigen, was in ihnen sichtbar wird, was dort vorunseren Augen geschieht, was die Bücher mit uns machen, was sie an Transformationen offerieren und was wir mit ihnen in diesem Sinne machen können.

Schauen ist Handeln, Arbeit, und dementsprechend spricht Inge Schmidt von Ihrer Arbeit auch in erstaunlich nüchterner Diktion. Thematische Reihen von Zeichnungen nennt sie „Folgezeichnungen“, ihre Werke bezeichnet sie generell als „Stücke“, weniger im musikalischen Sinn, mehr im Sinne von Werkstück, auch mit einem Akzent auf Teilstück und dem Verweis auf die Kontingenz von Formfindung überhaupt.

Beim Blick gerade auch auf die größerformatigen Leporellos und Bücher habe ich oft den Eindruck eines Blicks von hoch oben, aus einem Flugzeug quasi, auf driftende Landmassen, Inseln, Wesen in einem zeichnerisch strukturierten Bildraum. Titel wie „Sansibar“ oder „Eiland“ unterstützen dies.

Im Umgang mit Kunst greife ich auf ein kulturelles Gedächtnis zurück, welches mir gewöhnlich gar nicht in vollem Umfang explizit präsent ist, vieles bleibt halb- oder unbewusst, wird als Stimmung und Anmutung erfahren. In der Begegnung mit der Kunst komme ich nicht umhin, meinen spezifischen kulturellen Hintergrund und meine persönlichen Erfahrung an die Werke heranzutragen, sie in deren Licht zu sehen und zu verstehen.

In diesem Sinne sind auch die Titel für Inge Schmidt wichtig, sie betont das im Gespräch sogar und wenn Sie in einer der Vitrinen die Zettel lesen auf denen die Exponate verzeichnet sind, dann werden Sie im Sprachlichen eine ähnliche Erfahrung machen wie im Visuellen, die untereinander geschriebenen Titel lesen sich da plötzlich wie aleatorische Dichtung. Ich darf zitieren.

1 Auswärtige mit Pritsche, 2011
2 Kopf im Rahmen, 2012
3 Schräge mit Sienna, 2010
4 roter Dämon, zufrieden
5 dunkles Innen, 2010
6 Versuch zu konkretisieren, 2012
7 schöner Rücken, 2014
8 Pflegeleichtes Buch, 2013
9 Eiland, 2012

oder

1 13 Augen, 2013
2 das eine, das das andere wollte, 2011
3 stolze Zypressen, 2014
4 halbgerolltes Buch, 2013
5 dunkles Objekt, 2010
6 Genageltes auf Span, 2011
7 Sennerin, 2013/14
8 Fortsetzung zum Kurzroman, 2012
9 zu langer Faden, 2012
10 emphatisches o. T., 2012

Die Bücher von Inge Schmidt sind also nicht nur Orte visueller Agilität, sie spielen, wo das Zeichnerische zum Zeichen wird, auch mit Bedeutungen und Inhalten, nicht zuletzt durch die Ihnen zugewiesenen Titel. Ganz selbstverständlich identifizieren wir Landschaften, Dinge, Tiere und andere Wesen, erleben Anmutungen – manche vielleicht auch Zumutungen.

Die Faszination der Exponate basiert gerade auf ihrer eigenwilligen Verschränkung von Visualität, Wahrnehmung und Erleben mit dem Zeichenhaften, von „Zeigen“ und „Sagen“.

Die Bücher, Leporellos und Buchobjekte von Inge Schmidt oszillieren zwischen „Signifikation“ und „Sensation“, zwischen “Sinn und Sinnlichkeit“ – Wie lautet noch gleich einer ihrer Titel? „das eine, das das andere wollte“

Damit eröffnen uns die Arbeiten von Inge Schmidt einen Möglichkeitsraum, der schon der Raum aktueller Erfahrung ist, einen „Spielraum des Erprobens“ (Boehm 2007, S. 119), der das bloß Imaginäre bereits hinter sich gelassen hat. Entscheidend ist immer dieses Moment demonstrativer Ereignishaftigkeit: Präsenz.

Inge Schmidt stammt aus Bonn. Sie hat von 1975 bis 1981 Bildhauerei studiert an der Hochschule für bildende Künste – der Städelschule – in Frankfurt am Main. Sie war dort Meisterschülerin von Professor Michael Croissant und wurde durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert.

Kontinuierlich seit 1982 werden ihre Arbeiten in Ausstellungen gezeigt. Viele davon finden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen. 1987 wurde sie mit einem Gaststipendium für die Villa Romana in Florenz ausgezeichnet. Inge Schmidt lebt in Köln.

Bücher macht Inge Schmidt noch nicht lange. Erste Überlegungen dazu datieren auf das Jahr 2008. Damals wurden verschiedene Folgen von Zeichnungen von ihr in mehreren Publikationen zusammengefasst. Ab dem Winter 2009/10 entstehen dann in dichter Folge Bücher, Leporellos und Buchobjekte. Die Bücher bilden mittlerweile neben den plastischen Arbeiten und den Zeichnungen die dritte und jüngste Werkgruppe der Künstlerin, eine Werkgruppe, die jedoch auch schon weit über dreihundert Arbeiten zählt.

Eine Ausstellung mit Büchern in einer Bibliothek einzurichten, Buchunikaten einer Künstlerin zumal, scheint naheliegend, aber selbst einem ersten und vielleicht auch noch flüchtigen Blick in die Ausstellung entgeht nicht, dass die Exponate in den neunzehn Vitrinen, gleichwohl als „Künstlerbücher“ angekündigt, dem Buch als Massenmedium und selbst klassischer Buchkunst nicht einfach zuzurechnen sind. Hier suggeriert der Begriff zunächst mehr Gemeinsamkeit als an Unterschieden produktiv hervorzuheben wichtig bleibt.

Die Bücher, Leporellos und Buchobjekte von Inge Schmidt wirken oft fragil, die ihnen eigentümliche Anmutung lapidarer Selbstverständlichkeit scheint eine unaufgeregte Achtsamkeit zu ermutigen. Den Arbeiten fehlt aller handwerkliche Pomp, eigensinnig verweisen sie auf ihre oft widerspenstige Materialität, die sich gegen den buchbinderischen Zugriff sträubt, diesen vielfach unterläuft und modifiziert. Das ist dann teils auch an den Buchtiteln ablesbar. Da finden wir nicht nur die Mondlose Nacht und eine Sennerin, sondern auch Genageltes auf Span und ein schmutziges Büchlein von 2011, aber auch ein pflegeleichtes Buch aus bezeichnetem Kunststoffbodenbelag von 2013.

In der Kommunikation streben wir gewöhnlich Symmetrien an. Der eine möchte durch das Gesagte verstehen, was die andere gemeint hat. Möglichst präzise und ohne Verluste. Wir spielen oder mühen uns ab mit dar Differenz von Gemeintem und Gesagtem. Das Ziel dieser Bücher dagegen ist von vorne herein Asymmetrie, ist die Auflösung fester Sinnfügungen zu Gunsten einer Produktion von Sinn, der vorher skizzierten Operationalisierung. Mit diesen Büchern wird augenfällig Sinn produziert, wenn auch kein platt offensichtlicher. Dem dient auch das Rohe der Stücke, ihre ungeglättete Materialität, die Variation der Strichführung und der Materialien, Haptik und Auftrag der Farbe, oft als Fleck, häufig in erdfarbenen Tönen, mit Assoziationen von Geschmier, Schmutz, Schlamm und der Selbstbehauptung eines ungefügen Natürlichen. Anarchische Kleckse, die noch von Adorno als Einspruch realen Leids gegen die Autonomie des Kunstwerks erfahren wurden. (Adorno 1997, S. 44) Und dann immer wieder Formen, vielfach changierend zwischen dem Kreatürlichen und dem Geometrischen, dann wieder klar zu identifizieren, als Tier zum Beispiel.

Exemplarisch stehen die Arbeiten von Inge Schmidt für eine Unterscheidung, die der russische Theologe, Mathematiker, Kunst- und Kulturwissenschaftler Pavel Florenskij in seinem Buch „Raum und Zeit“ getroffen hat. Die Zeichnung, schreibt er, „stützt sich auf Bewegungsempfindungen und organisiert folglich einen Bewegungsraum. Ihr Gebiet ist das des aktiven Verhältnisses zur Welt.“ (Florenskij 1997, S. 160) Malerei, Farbe verbindet er mit sensueller Rezeptivität, Taktilität, Gestaltbildung aus dem Fleck heraus.

Mit seltener künstlerischer Beweglichkeit bringt Inge Schmidt auf den Seiten ihrer Bücher beides zusammen, es gelingt ihr, Heterogenes zu verbinden ohne dessen Eigentümlichkeit zu tilgen.

Das alles spielt sich ab im offenen, häufig über mehrere Seiten reichenden, vielfach gefalteten Raum der Buchseiten, der zeichnend immer wieder gegliedert und geordnet wird, ohne jedoch seine Offenheit dadurch einzubüßen.

Buchseiten und Bildraum werden nicht mehr als homogene, einheitliche Orte verstanden. Sie sind polyfokal, multizentrisch, die Betrachtenden sind aufgerufen sich in den Büchern quasi zu bewegen und Sinn durch die Vernetzung immer neuer Konstellationen zu aktualisieren. Oberflächenreize, Materialität und Ausdrucksmomente sind hierfür ebenso wichtig wie Bedeutung im geläufigen Sinn.

Immer wieder stoßen wir dabei auf „sehr höfliche Geister“ und „das eine, das das andere wollte“.

Ich danke Ihnen.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1997): Philosophie der neuen Musik. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Boehm, Gottfried (2007a): Ikonisches Wissen. Das Bild als Modell. In: Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. 1. Aufl. Berlin: Berlin Univ. Press, S. 114–140.
Boehm, Gottfried (2007b): Ikonoklasmus. Auslöschung - Aufhebung - Negation. In: Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. 1. Aufl. Berlin: Berlin Univ. Press, S. 54–71.
Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns. Dt. Erstausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Florenskij, Pavel A. (1997): Raum und Zeit. 1. Aufl. Berlin: Ed. Kontext (Werke, 5).
Mersch, Dieter (2002): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink.
Pynchon, Thomas (1980): Die Versteigerung von No 49. Roman. Dt. Erstausg., 6. - 7. Tsd. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (Das neue Buch, 42).
Pynchon, Thomas (2000): The crying of lot 49. London: Vintage.