Das Vertrackte
des Einfachen
Zum plastischen und zeichnerischen
Werk von Inge Schmidt
Der bekannte
Verleger Samuel Fischer sagte einmal, es sei seine Aufgabe, Bücher
zu machen, die das Publikum nicht haben wolle. Wäre er Ausstellungsmacher
gewesen, hätte es ihn sicherlich gereizt, von dieser nachahmenswerten,
gleichwohl überheblichen Haltung ausgehend, die Öffentlichkeit mit
Werken von Inge Schmidt herauszufordern. Sieht sich die Künstlerin
schon selber, wie sie im Interview mit J.M.Calleen verriet, "irgendwo
am Rande" des aktuellen Kunstgeschehens, jedenfalls jenseits "einer
gewissen Marktgängigkeit" (was Fischer letztlich meinte). Kaum vorstellbar
ohnehin, daß diese "staksigen Skulpturen", diese "wie Wunden abgeklebt
und umschlungen" erscheinenden Gelenkstücke, diese "Stöcke, die
abstolpern über ihre eigenen Beine" (Manfred Schneckenburger) dem
ästhetischen Empfinden des breiten Publikums entsprächen.
Die "armen" Materialien - stets aus dem Bereich des Alltags und
des Übrig- bzw. Liegengebliebenen entnommen -, die brüchig und unstabil
wirkende Konstruktion, die scheinbare Desavouierung des gekonnten
und rationalen Handwerks, wie die Verneinung jedweden Vernünftigen
und Nützlichen (auch des Dekorativen) stoßen den unbedarften Betrachter
auf den ersten Blick vor den Kopf. Dieser erkennt die "plastischen
Stücke" (so neutral will die Künstlerin sie bezeichnet wissen) nur
deswegen als "Kunst", weil ihm bewußt ist, sich in einem Museum
oder einer Galerie zu befinden bzw., weil er vorweg darüber informiert
wurde (bevor sie "berühmt" wurden, benötigten Werke der Pop-art
bekanntlich auch den Kontext der Kunstgalerie). Nicht von ungefähr
daher das Bekenntnis mehrerer Besucher der Inge Schmidt-Ausstellung
im Stadtmuseum Siegburg (Anfang 2002), wie die Künstlerin registrierte,
daß die Zeichnungen, die auf einer Wand im Eingangsraum der Ausstellung
zu sehen waren (ein Ensemble von 25 Arbeiten), ihnen den Zugang
zu den "plastischen Stücken" erleichtert hätten.
Gewiß, die Zeichnungen haben mit den Plastiken nicht direkt zu tun
- sie mache nie Entwurfszeichnungen, sagt Inge Schmidt, stuft das
Zeichnen sogar als "kleinen Nebenbereich" ab (pfui!) -, auf der
anderen Seite jedoch läßt's sich nicht verleugnen, daß alles in
ihnen drin ist, was ihre plastischen Stücke auszeichnet. Das Konstruierte
beispielsweise, das allerdings dank der präzisen Linienführung und
manchmal angestrebten Genauigkeit (z.B. bei den Darstellungen von
Gegenständen und Bauten) nicht die widersinnige Umkehrung erfährt
wie in der Plastik, denn wir sehen sie schließlich zuallererst als
Entwürfe, Skizzen an, als "Zeichnungen über das Zeichnen" (wie Schneckenburger
es auf den Punkt bringt). Das Spielerische, Leichte, zufällig Erscheinende,
Spontane, das bei anderen Zeichnungen die hervorstechenden Merkmale
bildet, nehmen wir als eigenständige Werte wahr und erfreuen uns
an diesen für sich allein, wie an den Rhythmen der Farben und Strukturen,
die auf einen gegenständlichen Bezug verzichten. Aus diesem Grunde
"befremden" uns die jenseits der Wirklichkeit pendelnden figurativen
Elemente nicht: die Menschengestalten, die eher schweben als gehen,
oder die mechanischen, zuweilen roboterhaften Kopf- und Körperfragmente,
mal als "plastisch" wirkender Hohlraum erfaßt, mal als knapp angedeutete,
Raum verneinende Umrißzeichnung (ihre "Künstlichkeit" macht gerade
ihren besonderen Reiz aus). Vielmehr beleben diese gegenständlichen
Bezugnahmen unsere Phantasie und Gedankenwelt, leiten unsere Blicke
auf Unvorhergesehenes, Unerwartetes, und scheuen sich nicht davor,
uns ein Lächeln, ein Schmunzeln hervorzulocken.
In ihren Arbeiten schwingt eine Portion milder Selbstironie fast
immer mit, z.B. wenn eine Holzlatten-Konstruktion mit dem Hauptmerkmal
einer rein geometrischen Linienführung als "Dummes Konstrukt" betitelt
wird, oder eine andere als "Empfindliche Paarung". Nie läßt sich
ihr Werk - ob im Bereich der Plastik oder Zeichnung und hierin gegenstandsbezogen
bzw. -suggerierend oder nicht - mit irgendeiner Rationalität beikommen.
So sehr sich Inge Schmidt auf dualistische Prinzipien zu berufen
scheint, um aus Gegensätzen Spannungen zu erzeugen, wie z.B. zwischen
Grundform und Abweichung, Ganzheit und Teilbarkeit, Gleichheit und
Ungleichheit, Stabilität und Labilität, Passivität und Aktivität,
Verbindung und Trennung, Farbe und "Nichtfarbe", Innen und Außen,
geschlossene Form und offene Form, usw., stets zieht sie uns bei
einer vernunftgesteuerten Annäherung ihrer Arbeiten den Teppich
unter den Füßen weg. So entpuppt sich das Einfache als gar nicht
so einfach, sondern als Auslöser von Myriaden von Gedankengängen
und Anregungen, die jedoch zu keiner endgültigen Festlegung führen.
Wie der Dramatiker Franz Grillparzer schon im vorletzten Jahrhundert
veranschaulichte, sind wir in der Lage, alles zu verstehen, nur
das völlig Einfache nicht.
Inge Schmidts Bevorzugung eines additiven Bauens, ihr Hang zum Einfach-Direkten,
zum Witzig-Drolligen, zum "Spiel", das "immer etwas mit Locken und
Verlockung zu tun" hat (ihre Worte) - gepaart mit einer von Neugier
und Staunen, von einer gewissen Unbekümmertheit und Unbefangenheit
geprägten Sichtweise - verleihen ihren plastischen wie graphischen
Arbeiten die Aufrichtigkeit und Ursprünglichkeit, die wir an der
Kunst von Kindern und den Naiven so sehr schätzen und die offensichtlich
J.M.Calleen veranlaßten, in seinem Interview mit Inge Schmidt die
provozierende Frage an sie zu stellen, ob "Kinder die gleiche Kunst
machen können wie Sie". Die Künstlerin erwiderte darauf, daß Kinder
"wünderschöne Dinge machen", doch: "keine Kunst". Sie meint natürlich
bewußt Kunst machen, doch am besten umschifft man die gefährliche
Klippe, was Kunst sei und nicht sei, mit Hilfe des von Ernst Gombrich
geprägten Aphorismus: "In Wirklichkeit gibt es so etwas wie Kunst
gar nicht. Es gibt nur Künstler[innen]". Tatsächlich bedient sich
Inge Schmidt der Einsicht und Vorgehensweise von Kindern und "Naiven"
hinsichtlich des "unverstellten Blickes" und der Fähigkeit, "Empfindungen
direkt in Form zu bringen" (Eigenschaften, die sie den Kindern selber
zuschreibt). Auch das unnachahmlich Vertrackte ihrer Installationen,
der einzelnen plastischen Stücke insbesondere, aber auch ihrer Ensembles
der Zeichnungen an der Wand (wie beide im Siegburger Stadtmuseum
zu sehen waren und von denen eine weitere auf dem Umschlag des begleitenden
Katalogs zu betrachten ist) - die erst nach eingehender Betrachtung
den Blick auf und die Einsicht für die unprätentiöse Schlichtheit
der einzelnen "Stücke" freigeben - beruht auf dieser Geisteshaltung.
Die Begriffe, die bei der Annäherung an die Kunst Inge Schmidts
am vielversprechendsten zu sein scheinen, drehen sich um die der
"Brüchigkeit" und des "Fragments". Allzu wörtlich, aber auch allzu
metaphorisch darf man beide allerdings nicht nehmen. Inge Schmidt
will keinen zivilisatorischen Zustand versinnbildlichen, überhaupt
verfolgt sie kein bestimmtes gesellschaftliches, politisches oder
soziales Anliegen: Das, wie sie gesteht, wäre ihr "zu groß und zu
gewaltig". Das "Fragment" als solches fesselt sie, nicht das "Ganze",
das "Komplette". Perfektion und eine endgültige Ordnung bzw. Vereinheitlichung
als Idealzustand, d.h. der totale Anspruch sind ihr ein Greuel (und
Illusion). Es mag legitim sein, ihre Arbeiten als Versatzstücke
labil lavierender, auf der Kippe stehender menschlicher Existenz
zu interpretieren; oder als Momento mori eines aus dem Strandgut
des Lebens zusammengeschusterten Universums; oder als Spiegelbilder
einer Welt rationaler Idiotie. Doch greifen wir damit nicht zu kurz?
Sind die Werke nicht zuallererst schlichtweg für sich allein stehende
Plastiken und Zeichnungen, genauer "Stücke" und "Arbeiten" auf Papier,
deren herausragende Eigenschaften diesen Interpretationen eigentlich
zuwiderlaufen? Tatsächlich erhält in ihnen und durch sie der negativ
besetzte Begriff der "Brüchigkeit" eine ganz andere, und zwar positive
Bedeutung. Spielerisch, aber souverän, macht Inge Schmidt aus "Brüchigem"
bescheidene, fragile, aber sich behauptende "Kunstwerke", die Einzigartigkeit
und Singularität - das Kostbarste überhaupt - auszeichnen.
Alfred M. Fischer
Zitierte Literatur:
Katalog zur Ausstellung Inge Schmidt, Galerie
Wieneke, Köln 1994
Katalog zur Ausstellung Inge Schmidt, Städtische
Galerie im Georg-Meistermann-Museum, Wittlich/Stadtmuseum Siegburg
2001/2002
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