INGE SCHMIDT   Bildhauerin
Wachsen und Wuchern

Inge Schmidt beginnt das Büchermachen (fast) wie von selbst im Winter 2009/2010; zuvor spielte dieses Medium im Werk der Bildhauerin und Zeichnerin keine Rolle. Ein erster Anstoß zur Beschäftigung mit dem Potenzial des Künstlerbuches ging aus von vier in kleiner Auflage von Manfred Förster herausgegeben Heften, die jeweils eine Folge von Zeichnungen zusammenfassten; den Anfang der eigentlichen, bald größte Intensität erreichenden Buchproduktion aber machten einige einfache Rechenhefte und abgelegte Notizblätter, in die die Künstlerin direkt hineinarbeitete. Seitdem entstanden (bis März 2013) rund 280 gezeichnete, gemalte, geschnittene, collagierte Bücher in wechselnden, mitunter seltenen, seltsamen Formaten, in allen möglichen Formen. Damit entstand (und entsteht, Ende nicht absehbar) neben Skulpturen und Zeichnungen ein dritter, eigenständiger Werkbereich, der sich (fast) jeder Sortierung durch vergnügt wuchernde, keinem formalen oder inhaltlichen Dogma unterworfene Hyperdiversität und Fortschreibung entzieht. Ein von vornherein scheiternder, notwendig unvollständiger Systematisierungsversuch in diesem durch offensichtliche und verborgene, nähere und sehr entfernte Verwandtschaftsbeziehungen (Einzelgänger mit eingeschlossen) geprägten Buchwerkfamilienkomplex könnte wie folgt aussehen - und wäre doch nur eine unvollständige Vielfältigkeitsandeutung: Bücher mit Schnitten (mitten in der Seite / am Rand). Sparsame, sehr sparsame (jeweils streng sparsam oder poetisch sparsam), sehr leere und sehr volle Bücher. Solche mit Linien (gedruckten / gezeichneten), Bücher, in denen gemalt wird (farbig / nicht so farbig). Bücher mit Tieren / Köpfen / Gegenständen / Worten / Bildfundmaterial. Bücher, die liegen (dabei geschlossen bleiben / sich selbst aufblättern) und solche, die auch stehen können. Bücher, deren Einband nicht aus grauem Karton besteht / deren Einband ein Behälter ist. Bücher, deren Titel erheitern / erstaunen / verwirren /die (k)einen haben („emphatisches o.T.“). Bücher, deren Seitenformat uneinheitlich (gerissen / geschnitten) ist. Bücher, die einen Tisch, eine Unterlage brauchen und Bücher, die man in der Hand halten kann ...

Jedes dieser Bücher ist ein Unikat, Seite für Seite gezeichnet, geschnitten, bemalt, geklebt in Einzelstückanfertigung. Als Buch (nicht also als Skizzensammlung, Ideenexerzierplatz zur Präparierung anderer Werke) gedacht und gemacht, als Einzelheit. Einige existieren als Faksimiles (laserkopiert, minuziös zurechtgeschnitten, von Hand gebunden) in wenigen Exemplaren; Buchdruck, gedruckte Bücher, die Möglichkeiten zeitgenössischer Buchproduktion spielen für sie nur eine Rolle, wo deren Erzeugnisse als Collagematerial, als mehr oder weniger übermalte Seiten Verwendung finden. Die Bücher von Inge Schmidt sind keine Druck-, sondern Handwerke, entstanden ohne einen Gedanken an Verbreitung, an ein Publikum, das größer ist als eine Person.

Jedes umkreist einen Formgedanken, ein Verfahren, eine Idée fixe (die beim nächsten gegen eine andere, grundverschiedene getauscht werden kann), koppelt sie an je eigentümliche, stets einfache Materialien, ein handwerkliches Vorgehen, erwächst aus dem Vergnügen am Zeichnen, Stricheln, Kreise ziehen, Ausschneiden, Zu- und Weitermalen, entwickelt sich aus dem Bedürfnis, Seiten zu füllen, einem gelegentlichen Füllzwang und Füllezwang bei begleitender produktiver Kontrollverlustlust ... dabei bleibt jedes fertige Buch konzentriert auf sein Verfahren, eine Zeichensprache oder Malweise, wodurch diese Buchindividuen homogen und konsistent sind, also frei von Abschweifungen, Brüchen, Sprüngen. Jedes spielt seine Idee durch, erprobt sie durch Variation oder Ausdehnung oder variierende Ausdehnung (weshalb das Leporello der ideale Spielraum für manche dieser Buchthemen ist), bewegt, verändert diesen Grundgedanken oder Kerneinfall, lässt ihn durch Ausbreitung mutieren, zeigt Seite für Seite eine andere Facette - bis es genug ist. Es zeigt sich unterwegs, wie weit diese Idee trägt, wie lang eine Form verfolgbar bleibt, einen Reiz ausübt. So ist (bleibt) jedes Buch auf seine Art bei der Sache.

Bevor das Buch ein Buch wird, ist es ein Stapel loser Blätter. Eine Folge, eine Fülle von Papierarbeiten, gemacht, um ein Konglomerat zu werden (so gibt es keine feststehende Seitenzahl, selten leere Seiten) und sie werden, nicht notwendig der Fertigungschronologie gehorchend, in eine stimmige Abfolge gebracht. „Bindegelüste“ nennt Inge Schmidt, was den Stapel loser Blätter zusammenbringt, sie zusammenhält. Es sind einfache Verfahren wie Binden, Schnüren, Klammern, Kleben mittels simpler Materialien, dem, was zur Hand ist und selbst ausgeführt werden kann. Auch für die Leporellos, die im Buchwerk Inge Schmidts breiten Raum einnehmen, werden bereits erarbeitete Blätter aneinandergefügt und gegebenenfalls anschließend noch einmal überzeichnet, um jenen die einzelne Seite ignorierenden Bildstrom, die panoramische Wuchsgroßform herzustellen, die sowohl eine blätternde Lektüre peu à peu wie auch den langen, fließenden Blick über das ausgebreitete Ganze ermöglicht. Schließlich findet, erfindet, improvisiert Inge Schmidt noch eine Haut oder Hülle, eine Unterkunft, ein oft unauffälliges Einbandkleid (manchmal mit Titelschild) für diesen Blätterkörper, Seitenleib, dass er nicht nackt sei, sondern komplett.

Wortlos sind diese Bücher. Es ist symptomatisch für alles Folgende, dass eines der ersten aus Notizblockzetteln besteht, auf denen alle Eintragungen überzeichnet und damit unleserlich gemacht wurden. In einigen Büchern finden sich Sprachreste, diese Worte sind aber kaum Leseworte, eher ein Material in Schriftform, das im Seitenraum platziert, arrangiert wird. Trotzdem aber umgibt, begleitet Sprache sie fast alle. Beinahe jedes hat einen Titel; sie finden sich erst während der Buchentstehung, die stets ohne eine Benennung, wortlos ihren Anfang nimmt. Die Titel sind erfindungsreiche, witzige, seltsame Formulierungen, widersinnige Sprachspiele, markante Namen, gelegentlich auch (scheinbar) sachliche Bezeichnungen, die die sichtbaren Buchinhalte begleiten, sie färben, tönen, in ein bestimmtes Licht rücken, ein Bedeutungsflackern erzeugen, eine assoziative Spur legen, eine Erwartung wecken – an denen das Buch selbst sich reiben mag, denen es sich widersetzt (oder auch nicht).

Bücher sind ein Synthesemedium für die Arbeit der Bildhauerin und Zeichnerin Inge Schmidt. Es vereint die Möglichkeit der Skulptur, indem es die Dinglichkeit des Buchkorpus - mitunter bis zum Objekthaften, dem frei im Raum stehenden Buchgebilde getrieben – betonen mit der Vielfalt und Spontaneität des Zeichnens, des Arbeitens auf und mit dem Papier, was die Bücher der Künstlerin zu Behältern für Gezeichnetes macht. Nur dass diese Buchzeichnungen Zeichnungsfolgen sind, nicht kleinformatige, konzentrierte Einzelblätter, sondern ausufernde, über zahlreiche Seiten oder das Faltenwerk eines Leporellos geführte Wucherungen eines Motivs, Formfortschreibungen, Möglichkeitserkundungen. Das Buch gestattet es, von der Festlegung auf eine einzige Lösung, den einen Wurf abzusehen, wie sie die Zeichnung (als Einzelblatt) und mehr noch die Skulptur fordern. Vielmehr erschließt das Buch für Inge Schmidt ein stupendes, voll genutztes Spektrum der (Er)Findungen und immer neuer, variierender Bewegungsmöglichkeiten. Es fordert und befördert durch seine Vielseitigkeit eine Pluralität der Versuche, erlaubt die Fülle eines Nebeneinanders möglicher Lösungen. Die Bücher von Inge Schmidt sind eine karg-prächtige Öffnung ins Diverse, ein Gestaltungs- und Spielraum, aus dem ein eigener, eigensinniger Kosmos aus und auf Papier erwächst.

Jens Peter Koerver, 2013