INGE SCHMIDT   Bildhauerin
Inge Schmidt - Das Leben formen

Ein zusammengerolltes Stück dünner Karton, geknickt und auf einen kleinen Holzklotz gesetzt - fertig! Die Arbeiten von Inge Schmidt fallen aus dem Rahmen, sie verursachen ein ungläubiges Staunen, so wenig ist da "gemacht", und doch so viel plastischer Ausdruck dabei entstanden! Denn ohne Zweifel ist die kleine Knickarbeit eine gestaltete Tatsache, ein Statement, formvollendet wie alle Objekte aus der von ihr unter dem lapidaren Begriff "plastische Stücke" zusammengefassten Werkgruppe.

Kommt man in Inge Schmidts Atelier, wird man zunächst einmal magisch angezogen von dem überbordenden Aufmarsch dieser kleinen, handlichen Arbeiten, manche nur wenige Zentimeter hoch, andere etwas ausladender, die sich auf großen Tischen, über Wandkonsolen und Regalbrettern ausbreiten, bis unter die Decke. Jede einzelne ist von einer unverwechselbaren Charakteristik. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Und doch sind es meist nur kleine Eingriffe, ein behutsames Verrücken und Zusammenfügen, aus dem heraus sich die Dinge mit Bedeutung füllen. Nichts wird zusammengezwungen, nichts aufgepfropft, alles Schwere vermieden. Oft genug eignet diesen Umdeutungen etwas Skurriles und Humorvolles an. Die Art, die Dinge miteinander in Beziehung zu setzen hat Witz und Esprit und lenkt den Blick auf das unendliche Potenzial der Möglichkeiten, dem nachzugehen doch so viel bereichernder ist, als nach der einen einzig wahren Lösung zu suchen. Deshalb verstehen sich Inge Schmidts Setzungen in erster Linie als Vorschläge - es könnte auch ganz anders ein - und deshalb gibt es viele davon, ein Heer miteinander verwandter Sippen, Gruppen und Untergruppen in unendlichen Verzweigungen.

Da gibt es die Fächer-Stücke, die immer ein bisschen an Palmen denken lassen mit ihrem einzigen, einem Stamm ähnlichen Standbein. Eine eigene Gruppe bilden die Gehäuse, nie ganz geschlossene Hohlkörper, in die man nicht wirklich reinschauen kann und nicht weiß, ob vielleicht etwas daraus herausschaut. Dann wieder finden sich sehr flache, geduckte Formen, die im Gegenzug zu den vertikal aufschießenden Fächer- oder Fahnenmasten breit in der Horizontale lagern. Die Rundungen gebogener Karton-Stücke verdanken sich einer dünnen Schnur, mit der sie in prekärer Spannung gehalten werden; eine andere Art Spannung definiert die erwähnten Knick-Stücke, und völlig Spannungs-frei liegen kugelige Volumen, die wie End- oder Ruhepunkte wirken, faul und bewegungslos auf ihren untergeschobenen Auflagen. Daneben allerhand Gebüscheltes, Gerolltes, Geschichtetes und natürlich immer wieder Einzelgänger, die sich keiner Kategorie zuordnen lassen.

Die nähere Betrachtung ermöglicht ein tieferes Eintauchen in die ungeheure Vielfalt und die Differenzierungen zwischen auf den ersten Blick sehr ähnlichen plastischen Lösungen. Dadurch öffnet sich die Wahrnehmung für die Bedeutung kleinster Verschiebungen. Ein paar Zentimeter mehr oder weniger, ein kleines Verrücken aus dem rechten Winkel, ein wenig Farbe, die Akzente setzt, oder im Gegenteil die Eigenfarbigkeit eines Elements zurücknimmt und den Fokus damit mehr auf die Form lenkt - all diese Einzelentscheidungen haben gewichtige Folgen. Und jetzt sehen wir plötzlich, dass bei dem eingangs beschriebenen Objekt ein kleines Element übersehen wurde, ein dünnes, zwischen dem aufgesetzten Volumen und der Grundplatte eingeschobenes, leicht aus der Achse gerücktes Stück Karton. Erst jetzt erkennen wir die entscheidende Bedeutung dieses kleinen Details für den plastischen Gesamteindruck.

Nachdem sich das Auge an dieses Wimmelbild kleiner "plastischer Stücke" - die allesamt auch als Modelle für große Raumplastiken durchgehen könnten - gewöhnt hat, können allmählich auch andere Werkgruppen aus dem Hintergrund des Ateliers hervortreten. Etwa die Schnitt-Stücke, hohe Stelen zwischen 180 bis maximal zweizwanzig Zentimetern Höhe, den Standardmaßen der Vierkanthölzer im Baumarkt entsprechend, die sich in einer Ecke versammelt haben. Hier ging Inge Schmidt konzentriert-kraftvoll vor, wurden die Hölzer doch von ihr mit der Kreissäge bearbeitet, wodurch sie ihre schnurgerade, industriell genormte Kontur in eine sehr bewegte, unregelmäßige Zackenform auflöste, deren dünnste Stelle manchmal nur noch einen knappen Zentimeter beträgt. Es ist sehr wenig, was sie vom Auseinanderbrechen trennt, und doch halten sie sich standhaft und heroisch auf ihren schmalen Plinthen, die manchmal wie Füße geformt sind.

Spätestens jetzt wird deutlich, dass als Bezugspunkt doch immer die menschliche Figur fungiert, auch wenn keine eindeutigen figurativen Elemente zu sehen sind. Die Schnittstücke imaginieren unweigerlich das Individuum, das sich trotz aller Fragilität sehr aufrecht hält, mit sicherem Stand. Jedes der plastischen Stücke ist eine Betrachtung menschlicher Befindlichkeit, und das macht sie so anrührend. Trotz des hohen Abstraktionsgrades wirken sie häufig wie beseelte Wesen. Andere sind verwandt mit Tisch, Stuhl, Hocker oder Haus und evozieren Begriffe und Vorstellungen von Behaust-Sein, Geborgenheit, Schutz, seinen Platz finden usw. Es sind Lebensthemen, wie sie sagt, die jeder kennt und doch findet sie dafür unverbrauchte und im besten Sinne originelle Bilder voller Poesie.

Und jetzt entdeckt der schweifende Blick tatsächlich auch figurative Darstellungen von Köpfen, Händen oder Körpern. Sie finden sich auf den Zeichnungen an den Wänden. Kleinere Blätter meist, eines zeigt nur eine Hand mit sechs langen dünnen Fingern, locker aquarelliert, bei einem anderen handelt es sich um ein um 90 Grad gedrehtes Notenblatt, dessen nun vertikal verlaufenden Notenlinien in Bewegung geraten durch eine im Profil gesehene und spiegelbildlich gedoppelte Halbfigur. Viele Gesichter, getuscht, gezeichnet, in Pastell. Aber auch kreisende Kugelschreiberlinien, die sich zu vegetabilen Formen verdichten, während die gezeichneten Tische, Sessel und Stühle wie selbstbewusste Porträts wirken, den krummen und verschieden langen Beinen zum Trotz. Jetzt zeigt sich, dass das Konvolut der Arbeiten auf Papier nicht weniger umfangreich ist als das der Plastiken, aber die Mehrzahl lagert in den Graphikschränken, wie auch die etwa 300 Künstlerbücher von ihrer Hand.

Inge Schmidts Talent, die Dinge in einer spannungsreichen Balance einander zuzuordnen, macht sich auch in ihren Ausstellungen bemerkbar, wenn es darum geht, aus der Überfülle ihres Werkes durch Auswahl und Gruppierungen eine zusammenhängende Dramaturgie zu entwickeln. Was sich aber bei einem Atelierbesuch mehr als in jeder Ausstellung erschließt, ist dieser unbändige Gestaltungswille. An Material kommt ihm vieles gelegen. Nützlich und brauchbar kann fast alles sein, Stöcke aller Art oder eben Vierkanthölzer aus dem Baumarkt. Ein Reststück Karton, auch Plastikfolien, eine schlichte Bleistiftlinie - Inge Schmidt wendet sich dem Naheliegenden zu und arbeitet mit dem, was gerade zur Hand ist.

Das mag verschiedene Gründe haben. Sich der herumstreunenden Dinge anzunehmen und ihren spezifischen Eigensinn ans Licht zu holen, ist einer davon. Es gibt nichts, mit dem nicht noch etwas anzufangen wäre. Aus einer aus einem Keller geborgenen Sammelmappe mit Stahlstichen und Kunstdrucken entstehen Dutzende von Collagen, indem sie reizvolle Formen ausschneidet, auf ein Blatt klebt und mit Bleistift und Tusche ergänzt. Die Formen der Reststücke haben aber ebenfalls ihren Reiz, so dass daraus wieder andere Arbeiten hervorgehen. Am Ende bleibt von den Ausgangsblättern nicht mehr der kleinste Rest übrig. Bei Inge Schmidt gibt es keinen Abfall. Gerade die Gebrauchsspuren von nicht mehr neuen Materialien bringen eine eigene Geschichte in die Arbeit mit hinein, sie bieten Anregungen und liefern nebenbei einzigartige Strukturen und Oberflächen. Der heute so aktuelle Gedanke von Nachhaltigkeit und Recycling ist für die 1944 geborene Künstlerin immer schon eine Selbstverständlichkeit.

Ein sorgsamer Umgang mit Ressourcen legt auch die Beschränkung auf das kleine Format nahe - wenn etwas im Kleinen funktioniert, kann es auch groß gedacht werden, aber wenn nicht, wird es nicht besser durch ein verzweifeltes sich Aufblähen. Ganze Mappenwerke von Zeichnungen sind entstanden, weil die Blätter von irgendwoher angeflogen kamen und nach Auseinandersetzung verlangten. Je ungewöhnlicher das Papier in Material und Format, desto mehr Anreize zur Bewältigung werden geschaffen. Und dann wird eben gezeichnet. Mit einem gewöhnlichen Bleistift legt sich Linie an Linie, bis sich diese ineinander verwickeln und verweben und neue plastische Gebilde entstehen lassen, diesmal auf der Fläche, aus der verwirrend verknotete Strudel in einem effektvollen 3D-Effekt hervorbrechen.

Die Vertiefung in die Zeichnung hat zur Folge, dass mit verschiedenen Stiften experimentiert wird und schließlich die Farbe ins Spiel kommt. Buntstifte, wie sie Kinder für ihre Zeichnungen verwenden, bringen eine neue Farbigkeit in dieses Werk. Zarte Pastelltöne ergießen sich über die Fläche, zusammengesetzt aus ganz einfachen Strichen, Lage für Lage über das Blatt wachsend. Aus den neuen Farben entstehen neue Strukturen und daraus wieder eine ganz neue Ästhetik, ein Paradigmenwechsel! Weit in ihren Siebzigern findet sich Inge Schmidt plötzlich tief eingetaucht in eine wie aus der asiatischen Kultur inspirierten zarten Landschaftsmalerei, bei der die Welt gleichsam von oben, aus gehöriger Distanz betrachtet wird.

Aber ganz so abgeklärt kann es natürlich nicht zugehen. Dafür sorgen die höchst lebendigen Wesen, die schon in den Künstlerbüchern auftauchten und mit ihrem fröhlichen Treiben nun auch die großen Zeichnungen beleben. Ein Bestiarium besonderer Art, lustige Vögel, Hase und Igel, oder genauer "falsche Giraffen", "freilaufende Vögel", "Hasenplage", "kreuz + quer schlafende Eulen" oder "fast schlafende Hunde". Ein paar wenige Beispiele aus Inge Schmidts Wortkunst, die gerade bei den Künstlerbüchern häufig die bildnerische Aussage ergänzt und erweitert. Sie bildet eine eigene Poetik mit ausgesprochen hohem Assoziationspotential und lautmalerischer Sensibilität, die ihr Gespür für die komischen Reibungen zwischen den Dingen auf sprachlicher Ebene demonstriert: "gepolstertes Blau", "gelbe Trübsal", "heute bewölkt", "Hundsfott", "Schoßkind", "schmutziges Büchlein", "verhaltener Flirt" usw.

Das Arbeiten in Folgen, wie es vor allem bei den Künstlerbüchern, den Leporellos und Mappen praktiziert wird, ist für diese Künstlerin naheliegend, da sich die Möglichkeiten der Variationen hier frei entfalten können, so dass die Folgerichtigkeit der Weiterentwicklung auch für den Betrachtenden nachvollziehbar wird. Am Anfang steht der Impulsmoment, eine Assoziation, eine Idee, oder vielmehr ein Gefühl, in welche Richtung es gehen könnte, und die Reise beginnt. Ein Gedanke wird weitergesponnen, als ließen sich Zeit und Raum unendlich ausdehnen. Er fächert sich auf, schlägt spielerisch alle möglichen Windungen und Schnörkel, setzt sich fest in "plastischen Stücken", in Zeichnungen oder in der Zwitterform der Künstlerbücher, die Zeichnung und Plastik zusammenbringt. Aber die Kraft, mit der sich Inge Schmidts aus dem Einfachsten zusammengesetzte Formfindungen aus der Deckung hervorwagen, speist sich nicht aus vorwitzigem Eroberungswillen. Es ist der mal fröhliche, mal tragische Mut zur Selbstbehauptung in vollem Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit.

Sabine Elsa Müller